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von Schwarzvogel » Sa Jun 14, 2008 7:20 pm
Es gibt keine Wirklichkeit, es gibt unzählige Wirklichkeiten. Wenn man sich ein wenig mit Wissenschaftstheorie beschäftigt ist dies einer der zentralen Aspekte, über den man sogleich stolpert. Verschiedene Beobachter haben nicht die gleiche Wahrnehmung, ein geschulter Beobachter sieht Dinge anders als ein Novize: ihr Hintergrundwissen und körperliche Differenzen sowieso sorgen zuverlässig dafür. Wenn nun Wissen die Wahrnehmung beeinflusst und sich das Wissen, was es täglich beobachtbar macht, ständig erweitert, dann ändert sich auch der Blick auf die Bilder und Wahrheiten der Wirklichkeit sind nichts weiter als ein Gegenstand der Rezeptionsinterpretation und damit individuell, die angestrebte Universalität geht flöten. Fotografie bedeutet Selektion, genau wie in der Literatur, wo Tzvetan Todorov und Gerard Genette zwischen "histoire" und "discours" differenzierten. Das eine ist die Gesamtheit des Stoffs, nicht vermittelbar und allumfänglich, die vom Autor geschaffene Erzählung greift selektiv darauf zurück und erschafft damit den discours, der sich festlegt in seinen Bedingungen, in der Erzählzeit und bei den Erzählaspekten. Nichts anderes macht der Fotograf, ein Versuch die histoire abzubilden ist von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Ein Bild teilt zudem seine Authentizität nicht immer bedingungslos mit, eine geschickt gemachte Retusche kann paradoxerweise wirklicher wirken als die Wirklichkeit. Wenn diese Unterscheidbarkeit nicht gegeben ist, so würde ich argumentieren, dass auf der Seite der Gestaltung des Bildes der Fokus auf die beabsichtigte Wirkung gelegt werden sollte, nicht auf penible Restaurationsbemühungen, da diese keinerlei Mehrwert für das Bild bringen, sondern nur eine diffuse Idee des Fotografen sind. Die Dokumentation gehört selbstredend auch mit zu großen Familie der Fotografie, hat aber wenig mit kritisierbarer künstlerischer Gestaltung zu schaffen, um die sich hier so gut wie alles dreht. Dokumentation versucht näher an die eben eingeführte histoire zu gelangen und schmälert damit die Eigenleistung des Schaffenden, Fotografie mit Ambition möchte das Gegenteil.
Das auf Heraklit zurückgehende "Panta rhei" umschreibt es recht gut, alles fließt, Momentaufnahmen sind immer künstlich und willkürlich gewählte Inseln im sich verändernden Fluss der Zeit. Es gab im antiken Griechenland deshalb sogar einen Philosophen, der sich standhaft weigerte verbal zu kommunizieren und nur noch seine Hände dafür benutzte, weil die Bedeutung der Worte von einem zu schnellen Wandel betroffen seien, als dass sie vernünftig zur präzisen Verständigung einsetzbar wären. Sicherlich ein Extrem, welches aber zeigt worauf ich abziele.
Wenn man nun die absolute Natürlichkeit als zu erreichendes Ziel fordert, ist das ein Anachronismus. Genau diese Einstellung wohnte der Fotografie in ihren Geburtsstunden inne, als man sie lediglich als Ersatz für die aufwändigere Nachbildung einer Szenerie via Malerei wahrnahm und nur in diesem Kontext einsetzte. Die malende Kunst emanzipierte sich alsbald von der fotorealistischen Perfektion und forderte ein Hinausgehen über das bloße Abbild der Natur und dies führte in den Impressionismus und den Expressionismus, welchem wir sicherlich eindrucksvollere, wirksamere, mächtigere Bilder zu verdanken haben als der realistischen Darstellung. Die Fotografie folgte und sah bald das Erstreben des bloßen Abbildes als weites Zurückbleiben hinter den eigenen Möglichkeiten an.
Ich verstehe durchaus, was Plaetzchenwolf mit seiner Natürlichkeit vorschwebt, erkenne darin aber keine Sinnhaftigkeit. Was zählt ist das Ergebnis und hier sind seine Bilder, das ist jetzt nur meine persönliche Meinung, reichlich unspektakulär mit einem innewohnenden Hang zur Langeweile. Bilder müssen meiner Meinung nach immer noch einen Moment der Überraschung haben und den gewinnt man meistens nur, indem man sie inszeniert und auch manipuliert.
Der von ihm vertretene theoretische Anspruch mag im Ansatz dort Sinn machen, wo einzigartige Phänomene, die dem normalen Menschen nicht zugänglich sind, mit dokumentarischem Anspruch fixiert werden sollen. Einmalige Landschaften in China vielleicht, das Polarlicht, versunkene Städte im südamerikanischen Dschungel. Hier macht es im überschaubaren Rahmen Sinn, im Kontext einer Reportage für ein Magazin, man denke vielleicht an die GEO, die Mittelformatkamera auf das Stativ zu schrauben und dem Kunden "Wirklichkeit", soweit eben möglich, zu bieten, weitergehende Montagen sind, da werden wir uns einig, tabu.
Dennoch: Der Betrachter der Bilder bekommt nur einen sehr ausgewählten Einblick. Jeder, der sich Stätten im Vorfeld auf einem Foto angeschaut und später tatsächlich besucht hat, wird von der Diskrepanz zwischen der durch das Foto geschaffenen Vorstellung des Ortes und der erlebten Wirklichkeit zu berichten wissen. Die "Wirklichkeit" des Fotos ist als Wirklichkeit ergo nichts wert.
Panta rhei; das Rad der technischen Entwicklung dreht sich weiter und das Resultat davon sind bessere Kameras, die immer leichter zu bedienen sind. Digitale Kameras sind ihren analogen Vorfahren inzwischen in so ziemlich jeder Disziplin überlegen. Das Kernproblem der vielen schlechten Fotos, die in einem stetig anschwellenden Fluss in das Internet strömen ist diese Evolution dennoch nicht, die Menschen machen nicht schlechtere Fotos als vorher, sie machen nur mehr davon. Angefangen hat es zum Ende des 19. Jahrhunderts mit der Kodak Nr. 1, die Fotografie für die Massen ermöglichte, mit der Digitaltechnik und dem Internet verschwinden nun die ganzen uninspirierten Aufnahmen nicht mehr in langsam verstaubenden Bilderalben oder werden bei Diaabenden den Verwandten und Nachbarn vorgeführt, die sich in den gereichten Alkohol flüchten. Nein, sie landen im Internet, der ultimativen Projektionsfläche. Da aber zunehmend die Nachdenklichkeit einer Reaktionskompetenz gewichen ist, die ohne weitergehende Gehirntätigkeit reflexartig den Auslöser der Kamera betätigt, wenn sich gewisse Schlüsselreize einstellen (Hund, Katze, Blume, Sonnenuntergang, ...) ist die Qualität des Ergebnisses absehbar. Die meisten machen sich schlicht und ergreifend keine Gedanken über ihr Schaffen, das spiegelt sich auf fototalk eindrucksvoll in der Beliebigkeit der eingestellten Bilder und der absoluten Unfähigkeit vieler Teilnehmer wieder, ein gutes von einem schlechten Foto zu unterscheiden, noch sind sie in der Lage, eine halbwegs profunde Kritik zu formulieren, die über inhaltsloses Geblubber über Schärfe und Belichtung hinausgeht. Ich verstehe daher auch ein Unbehagen, das so mancher vor der Automatik von Kameras hat, aber das eigentliche Problem ist hinter der Kamera. Es geht darum, in der Fotografie das Äquivalent von Literarizität zu schaffen und das geht eben nicht ohne Reflektion und genau an der mangelt es sehr häufig, ein etwaig gesamtgesellschaftliches Problem, keines der Technik.
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Schwarzvogel am So Jun 15, 2008 12:06 am, insgesamt 1-mal geändert.